In letzter Minute - Nationalsozialistische Endphaseverbrechen im Bergischen Land

Anfang November 2015 erschien der 14. Band der Buchreihe "Verfolgung und Widerstand". „In letzter Minute“ heißt dieser Band, der 70 Jahre nach Kriegsende über die nationalsozialistischen Endphaseverbrechen in unserer Region berichten will. Noch „In letzter Minute“ tötete ein Heckenschütze am Tag der Befreiung Wuppertals einen amerikanischen Soldaten in der Nähe des Berliner Platzes. Der Name des amerikanischen Soldaten, der so tragisch den Tod in Wuppertal fand, ist nicht bekannt. Wenig bekannt sind auch die Tötungen von deutschen Soldaten, die ebenfalls noch im letzten Moment, bevor der Frieden ausbrach, als Deserteure verhaftet und auf Erbslöh ihr Leben verloren.

Im Mittelpunkt des Buches stehen die Massaker im Burgholz und am Wenzelnberg.

Burgholz

Ende Februar 1945 erschoss ein Hinrichtungskommando aus Gestapo-und Kriminalbeamten 30 sowjetische ZwangsarbeiterInnen im Burgholz. Im ersten Beitrag berichtet Lieselotte Bhatia, Jahrgang 1939, Tochter des Kriminalsekretärs Wilhelm Ober, über ihre ganz persönliche Recherche über die Hintergründe des Burgholz-Massakers. Wilhelm Ober war bei der Wuppertaler Kriminalpolizei tätig und war an den Erschießungen im Burgholz in Wuppertal beteiligt. Er wurde 1948 von einem britischen Gericht zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er u.a. im Kriegsverbrechergefängnis Werl verbüßte.

Lieselotte Bhatia erfuhr erst nach dem Tod ihres Vaters von den NS-Verbrechen ihres Vaters, sie fand in seinem Nachlass die Verteidigungsunterlagen des Burgholz-Prozesses. Sie stellte Fragen, auch an ihre Mutter, und begann als Kind eines NS-Täters eine ganz persönliche Spurensuche. Frau Bhatia wollte alles wissen, sie recherchierte, trat öffentlich auf und engagierte sich seither in der historisch-politischen Bildungsarbeit. Zusammen mit anderen GeschichtsaktivistInnen stritt sie für die Entschädigung aller ZwangssarbeiterInnen und beteiligte sich seit 2001 an der Organisation von Besuchsprogrammen für ehemalige ZwangsarbeiterInnen. Zusammen mit Stephan Stracke versucht sie zurzeit das Rätsel der leeren Gruben im Burgholz zu klären und hat die Dortmunder Staatsanwaltschaft aufgefordert, nach weiteren Massengräbern im Burgholz zu suchen. Noch im September recherchierte sie u.a. in the National Archives in London nach möglichen weiteren Verbrechen im Burgholz.

Wenzelnberg

Am Wenzelnberg wurden 71 Gefangene aus dem Zuchthaus Lüttringhausen, aus dem Gefängnis Wuppertal-Bendahl und aus dem Polizeigefängnis Wuppertal von Angehörigen der Gestapo, Kripo und der Schutzpolizei ermordet.

Stephan Stracke rekonstruiert an Hand neuer Archivfunde und aktualisierter Fragestellungen die Ereignisse um das Massaker an der Wenzelnbergschlucht, fragt nach dem Ausbleiben der Strafverfolgung und informiert über die Lebensgeschichten der (vergessenen) Opfer und Täter. Bei der Recherche gab es handfeste Überraschungen. So wird zum ersten Mal die Geschichte der skandalösen Strafvermeidung erzählt, keiner der Täter vom Wenzelnberg wurde jemals bestraft. Auch der Lebens- und Fluchtweg des angeblichen Haupttäters Theodor Goeke konnte erhellt werden. Darüber hinaus wird über den Zuchthausdirektor Karl Engelhardt zu diskutieren sein, der politische Gefangene vor der Tötung am Wenzelnberg schützte und gleichzeitige andere sog. „kriminelle, aber auch politische Gefangene dem Mordkommando der Wuppertaler und Solinger Polizei auslieferte. Engelhardt wurde zudem 1957 wegen der Führung „schwarzer Kassen“ und anderer Betrügereien im Zuchthaus Lüttringhausen aus dem Amt entfernt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Zudem soll die umkämpfte Geschichte der Wenzelnberg-Gedenkfeier thematisiert werden.

Peter Fey schließlich hat ein Lebensbild seines am Wenzelnberg ermordeten Großonkels Adolf Führer beigesteuert. Sein „Verbrechen“: Er hatte in einem Interview mit einer niederländischen Zeitung über die menschenverachtenden Zustände in deutschen Konzentrationslagern berichtet. Er wurde verhaftet und vom Volksgerichtshof wegen sog. Volksverrates zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Adolf Führer habe, so das Gericht, sich der »Schädigung des Ansehens des Deutschen Volkes« schuldig gemacht.

Historisch-politische Bildungsarbeit

Darüber hinaus soll das Buch auch für die historisch-politische Bildungsarbeit nutzbar sein. Wir haben einige wichtige Dokumente zu den Massakern zusammengestellt und mit kleinen Arbeitsaufträgen versehen, die wir ausdrücklich als Diskussionsanregung verstehen.

Insgesamt soll dieses Buch auch eine Anregung für Geschichtsinteressierte, GeschichtsaktivistInnen und HistorikerInnen sein, in neuen Projekten vor Ort zu graben und z.B. die Geschichte(n) der NS-Täter aus Polizei und Justiz und die Strukturen der regionalen Polizeibehörden, Gefängnisse und Zuchthäuser zu erforschen. Und wir wünschen uns, dass diese Erkenntnisse auch in eine lebendige Gedenk- und Erinnerungsarbeit einfließen werden.

Bhatia, Lieselotte / Stracke, Stephan: In letzter Minute – Nationalsozialistische Endphaseverbrechen im Bergischen Land

Bildungsmaterial zur Wuppertaler Polizei- und Widerstandsgeschichte Bd. 1.

De Noantri Verlag

ISBN: 978-3-943643-03-9

320 Seiten 18,00 €

Rezensionen:

Horst Sassin: in: Romerike Berge, Zeitschrift für das Bergische Land, 66. Jahrgang Heft 3/2016, Herausgegeben im Auftrag des Bergischen Geschichtsvereins, S. 45-46

Immer wieder stößt der historisch interessierte Leser auf Aspekte, die in der wissenschaftlichen Darstellung bislang unberücksichtigt geblieben sind. Dazu gehören die Verbrechen, die in der Endphase des „Dritten Reiches“ von staatlicher Seite im Bergischen Land begangen wurden. Die Auflösung der eigenen Herrschaft vor Augen, dezentralisierten die Machthaber ihre Kompetenzen und griffen zum Mittel des Mordes, um die Bevölkerung unter ihrer Knute zu halten. In einer Zeitleiste dokumentieren die Verfasser insgesamt 21 Verbrechen, die allesamt in der nördlichen Hälfte des Bergischen Landes stattfanden. 140 Personen oder mehr wurden während der Endphase ermordet, zwei begingen Suizid. Weder sämtliche Namen noch die genaue Zahl der Opfer sind bekannt. Der vorliegende Band greift zwei Fälle heraus.

Stephan Stracke untersucht in dem längsten Beitrag die Morde in der Wenzelnbergschlucht vom 13. April 1945, drei Tage vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen. Dort wurden 71 Personen ermordet, davon 60 aus dem Zuchthaus RemscheidLüttringhausen, 4 aus Wuppertal-Bendahl und 7 aus Wuppertal-Ronsdorf. Es ist 70 Jahre nach dem Massaker die erste wissenschaftliche Darstellung. Unter Verwendung neuer Quellen geht es ihm insbesondere um die Rolle des Lüttringhausener Anstaltsdirektors Engelhardt, der sich die Zusammenstellung der Opfer seines Zuchthauses vorbehalten hatte. Der Autor fragt nach einer möglichen Zusammenarbeit Engelhardts mit einem Netzwerk politischer Gefangener, denn es fällt auf, dass solche aus dem bergischen Städtedreieck verschont blieben. Des Weiteren stellt er dessen Sprachgebrauch in Frage, wenn er menschlich wertvolle von asozialen und kriminellen Häftlichen sondert.

Anhand von Engelhardts Personalakte kann er mit schwarzer Kassenführung zusammenhängende spätere Dienstverfehlungen nachweisen. Hingegen erkennt er seine Konfliktbereitschaft mit NS-Behörden nicht als Voraussetzung für seinen Einsatz zugunsten der politischen Gefangenen in letzter Minute. Ein bedenkliches Zeichen ist die mangelnde Strafverfolgung der Täter vom Wenzelnberg: Nicht einer von ihnen wurde für das Massaker verurteilt. Sodann stellt der Autor die wechselnde Art der Gedenkfeiern seit 1946 dar. Bei der Feier 1986 unter Beteiligung Solinger Schüler übersieht er die Publikation ihres Beitrags in „Die Heimat“, NF 2, 1986, herausgegeben vom BGV Abt. Solingen. Im Sinne der dort zitierten Schüler widerspricht er der Mythologisierung sämtlicher Opfer als Antifaschisten und fragt nach unserem heutigen Umgang mit den Tätern. Er schließt seinen Aufsatz, den er als Vorarbeit für eine größere Studie versteht, mit einer Liste der Täter- und Opferbiografien ab, die teilweise allerdings nur aus wenigen Worten bestehen.

Eingerahmt wird sein Aufsatz von zwei Beiträgen familiär Betroffener. Lieselotte Bhatias Beitrag handelt von dem Massaker an 30 Zwangsarbeitern Ende Februar oder Anfang März 1945 am Burgholz in Wuppertal-Cronenberg, an dem ihr Vater als Kriminalpolizist beteiligt war. Der Beitrag mündet in die Aufforderung an den Oberstaatsanwalt bei der NRW-Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Verbrechen, gegen die gegebenenfalls noch lebenden Täter die Ermittlungen aufzunehmen. Peter Fey schreibt über seinen Großvater, der in der Wenzelnbergschlucht ermordet wurde. Die Tat, für die er inhaftiert war, war die Information ausländischer Zeitungen über die Verhältnisse in deutschen Konzentrationslagern.

Dokumente reichern die drei Beiträge an. Sie sind mit Arbeitsaufträgen versehen, die wiederum auf der gegebenen Grundlage teilweise sicher nicht sachgerecht zu bearbeiten sind. So fehlen zur Frage nach dem Niedergang der KPD in ihrer einstigen Hochburg Solingen (S. 317) etwa deren Parteiausschlussverfahren wegen Sozialdemokratismus, Titoismus, später wegen Maoismus und aus anderen Gründen. Für die Geschichtsschreibung allgemein ist die Forderung nach der Überführung von Altakten im Polizeipräsidium Wuppertal an das Landesarchiv NRW von Bedeutung.