Gestohlene Jugend
Am 8. Oktober 1944 umstellten Wehrmacht und deutsche Polizei Kirchen und Dörfer in der niederländischen Provinz Limburg. Kurz vor der Befreiung wurden noch 3 000 Niederländer nach Deutschland verschleppt. Viele waren noch Kinder. Sie kamen zunächst in ein Durchgangslager in Wuppertal und wurden wie auf einem Sklavenmarkt weiter verteilt. Sie wurden zu Zwangsarbeit nach Wuppertal, Salzgitter, Duisburg, Viersen, Moers und in viele andere Städte deportiert.
Dieses Buch basiert auf den Erfahrungen von Lei Steeghs während des Zweiten Weltkriegs. Bei Kriegsbeginn war er elf Jahre alt. Als Fünfzehnjähriger wurde er verhaftet und als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert, wo er schreckliche Dinge erlebte. Seine Geschichte steht für die von vielen Tausenden Zwangsarbeitern, die als Sklaven in der deutschen Kriegsindustrie eingesetzt wurden.
Edition Wahler, ISBN 3-938145-008-00
Leseprobe aus "Gestohlene Jugend", Roman: Gestohlene Jugend
Renzensionen:
Ingolf Seidel: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/8731/2010-08-31-Gestohlene-Jugend
„Gestohlene Jugend“ ist die deutsche Übersetzung eines Jugendbuches aus den Niederlanden und widmet sich den Erlebnissen ehemaliger niederländischer Zwangsarbeiter, die noch im Oktober und November 1944 von der Wehrmacht in das nationalsozialistische Deutschland verschleppt wurden. Die Übersetzung von „Gestolen Jeugd“ beruht auf der Begegnung und Auseinandersetzung der „Forschungsgruppe Widerstand – Verein zur Erforschung der Sozialen Bewegungen in Wuppertal“ und des Vereins „Spurensuche NS-Geschichte in Wuppertal“ mit der Stichting Deportatie Oktober 1944 Noord en Midden Limburg. Gefördert wurde die Herausgabe des Romans im Rahmen eines Lokalen Aktionsplans des Programms „Vielfalt tut gut“ durch das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie mit privaten Mitteln.
Erzählt wird die Geschichte des Jugendlichen Lei und seiner Familie aus der niederländischen Provinz Limburg. Der Roman basiert auf den realen Erlebnissen von Lei Steeghs, dessen Vornamen auch die Hauptfigur im Buch trägt und spielt vorwiegend im katholischen Milieu. Die Handlung setzt im August 1939 mit der niederländischen Mobilmachung und dem anschließenden Überfall der deutschen Wehrmacht ein und schildert das Leben im besetzten Land. Der in den Niederlanden bekannte Autor Ton van Reen spricht nicht nur das Thema Zwangsarbeit an. Er thematisiert auch die Deportation der niederländischen Juden, die Hilfe, aber auch die Kollaboration von Niederländer/innen.
Im Rahmen der so genannten Kirchenrazzien wird Lei 1944 während einer Messe festgenommen. Gemeinsam mit ungefähr 3.000 anderen Leidensgenossen wird der Fünfzehnjährige zunächst in ein Durchgangslager in Wuppertal verschleppt und muss schließlich in einer Gießerei in Watenstedt bei Wolfenbüttel arbeiten. Parallel zu der Leidensgeschichte von Lei wird das weitere Leben seiner Familie geschildert, bis zur Befreiung durch alliierte Truppen und der Rückkehr des Jugendlichen in seine Heimat.
„Gestohlene Jugend“ ist ein Roman, der sich für einen fächerübergreifenden Unterricht in Deutsch und Geschichte eignet oder sich für ein Schulprojekt in der neunten oder zehnten Klasse anbietet. Die wechselnden Erzählstränge zwischen dem Schicksal Leis und dem seiner Familie machen das Buch stellenweise komplex, bleiben aber nachvollziehbar. Abgedruckt sind Karten der Gebiete aus denen Niederländer deportiert wurden und ein Plan von Norddeutschland mit den Orten, die Lei erlebt. Zusätzlich finden sich Fotos, wie das des bombardierten Rotterdam, Zeichnungen von Zwangsarbeitern, Bilder der Familie Steeghs und weiteres Bildmaterial. Mit diesem Material wird die Geschichte plastischer und lädt beispielsweise ein zu einer weiteren Spurensuche von Zwangsarbeiterschicksalen in der eigenen Stadt.
Da der Roman bereits zeitlich früh einsetzt werden wichtige Teile der Ereignisgeschichte des Zweiten Weltkriegs und der NS-Ideologie aufgegriffen. Zwar kann das Buch keinen Geschichtsunterricht und eine historische Kontextualisierung ersetzen, ist aber auch in Klassen oder Jugendgruppen mit relativ geringem Vorwissen zur Geschichte des Nationalsozialismus einsetzbar. In diesem Fall könnten die im Buch erwähnten Geschichtsereignisse durch eine Zeitleiste visualisiert und durch andere Daten ergänzt werden.
Michael Damboer: :informationen 70|Seite 38
Die deutsche Übersetzung des Jugendromans „Gestohlene Jugend“ von Ton Van Reen entstand im April 2008 auf Initative der Forschungsgruppe Widerstand aus Wuppertal. Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit ehemaligen holländischen Zwangsarbeitern wurde 2007 die Herausgabe des Buches auf Deutsch angeregt. Ton Van Reen ist ein bekannter holländischer Jugendbuch-Autor. Der Roman thematisiert die Besetzung der Niederlande sowie die Deportation und Ausbeutung holländischer Zwangsarbeiter, die im Herbst 1944 nach Deutschland verschleppt wurden. Von den 3000 Jungen und Männern, die bei Razzien von der deutschen Wehrmacht aufgegriffen wurden, überlebten 120 dieses Verbrechen nicht.
Das Besondere an dem Roman: Die Hauptfiguren Dora und Lei Steeghs gibt es wirklich. Van Reen orientiert sich an den realen Erlebnissen der Beiden während der Besatzungszeit. Dies gibt dem Roman Authentizität. Aus der Perspektive von Dora und Lei, zwei Bauernkindern aus der Region Limburg, werden nicht nur die Deportationen und die Zwangsarbeit beschrieben, sondern auch die Besatzung der Niederlande, der Alltag im Krieg, Kollaboration und Widerstand.
Der Roman beginnt im August 1939 am Vorabend der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht. Dora und Lei erleben den Einmarsch der Wehrmacht als Kinder und wachsen unter der Besatzung auf. Die Familie Steeghs leistet Widerstand gegen die Besatzer: Zuerst wird ein jüdischer Bekannter auf dem Dachboden versteckt, dann ein deutscher Deserteur. Mit allen möglichen Tricks versucht die Familie, die Requirierungen der Nationalsozialisten zu unterlaufen. Mit Beginn der Offensive der Alliierten wird das Leben noch schwerer. Die Tiere werden von den Deutschen gestohlen; wiederholt werden die Steeghs evakuiert und müssen den heimischen Bauernhof verlassen. Lei erlebt die Besatzung im Alter von 10 bis 15 Jahren. Seine frühere unbeschwerte Kindheit wird durch den Krieg beendet. Zuletzt wird der Junge auf dem Weg zur Kirche von den Deutschen gefangen genommen. Während sich andere junge Männer vor den Deutschen verstecken und in die Wälder flüchten, glaubt die Familie ihren Sohn durch sein geringes Alter geschützt. Das erweist sich als Trugschluss. Lei wird zusammen mit seinem Freund Harry über Venlo nach Deutschland deportiert. Dort muss er als Zwangsarbeiter in den Hermann-Göring-Werken arbeiten. Der 1937 von Hermann Göring, Paul Pleiger und Hermann Brassert gegründete Konzern gehörte zu den größten Konzernen der Schwerindustrie im „Dritten Reich“ und stellte vor allem Kriegsgüter her. Der Konzern beschäftigte auf seinem Höhepunkt über 600.000 Arbeiter, darunter ab 1943 über 50 Prozent Zwangsarbeiter. In den Hermann-Göring-Werken erlebt Lei das Ende des Kriegs und überlebt die Bombardierung Hildesheims. Fast zerbricht der 15-Jährige an der grausamen Zwangsarbeit und dem Schrecken des Krieges. Doch am Ende wird er von den Alliierten befreit und kann sich zurück nach Hause durchschlagen.
Auch für Leis Schwester Dora beendet die Besatzung die Kindheit. Sie muss immer mehr Verantwortung für die Familie und die Arbeit auf dem Hof übernehmen. Nach der Befreiung durch die Alliierten verliebt sie sich in den amerikanischen Soldaten Charles. Diese Liebe wird durch den Krieg zerstört. Charles kommt beim Einmarsch in Deutschland ums Leben. Der Autor Van Reen verweigert sich einfacher Schwarz-Weiß-Malerei. Nicht alle Deutschen sind böse, nicht alle Holländer im Widerstand. Da gibt es den deutschen Deserteur, den die Familie versteckt, und auch sonst erweisen sich nicht alle Deutschen als Monster. Anhand des Vaters von Annie, einer Freundin von Dora, wird auch die Kollaboration von Holländern mit den Nazis thematisiert. Der Roman bleibt streng chronologisch und beschreibt die Geschehnisse beginnend im August 1939 bis zum Oktober 1945. Van Reen versucht eng an den Erinnerungen seiner beiden Hauptprotagonisten zu bleiben. Leider geschieht dies auf Kosten der Dramaturgie, und so hat der Roman einige Längen und baut keinen dramaturgischen Bogen auf. Oft verliert er sich in Einzelheiten. Problematisch für ein Jugendbuch sind die häufigen Sprünge und Wechsel der Erzählebene. Junge Leser oder Leserinnen können dabei leicht den Faden und die Lust am Weiter lesen verlieren.
Dies wäre jedoch sehr schade. Denn der Roman gibt tiefe Einblick in das alltägliche Leben unter der deutschen Besatzung und kann seinen Lesern das Grauen der Zwangsarbeit und des Krieges vermitteln, ohne Jugendlichen Alpträume zu verursachen. Gerade das letzte Drittel, in dem das Schicksal Leis als Zwangsarbeiter thematisiert wird, ist fesselnd. Bei allem Leiden überwiegt die Menschlichkeit. Mit der Rückkehr von Lei zu seiner Familie und Doras Entscheidung, Krankenschwester zu werden, führt Van Reen die Leser zu einem versöhnlichen Ende.